Automatenbilder

von Eugen Blume

 

Was hätten wohl die großen Porträtisten des 17. , 18. oder frühen 19. Jahrhunderts gedacht, wenn ihnen jemand glaubhaft versichert hätte, nur relativ kurze Zeit später wird es technisch möglich sein, Bildnisse zu schaffen, die nicht nur dem gesehenen Bilde sehr nahe kommen, sondern auch noch sprechen können und sprechen bedeutet, daß sich diese Bilder bewegen müßten. Freilich wissen wir von Vermeer, daß er seine zauberischen Interiors mit Hilfe der camera obscura gemalt hat. Ein sich bewegendes, auf eine Leinwand projiziertes Bild hatte er zwar vor sich, aber festhalten, es sich von allein bewegen lassen, diese Behauptung wäre ihm sicher als vollständig absurd erschienen. Um sich aus dieser gedanklichen Misere lösen zu können, hätte er sich jene Automaten vorgestellt, die geschickte Mechaniker in Nürnberg oder sonstwo herstellten und die als Gastgeschenke bei Hofe gern gesehen waren. Diese Erfinder träumten von einem Automaten, einer menschlichen Gliederpuppe, die sich so anmutig bewegt und sprechen kann, daßman sie für einen wirklichen Menschen halten mußte. Erst das Kino hat es geschafft, wie Gilles Deleuze in seinem großen Essay über das Kino überzeugend darstellt, diesen Automaten wirklich zu konstruieren. Die Projektion erfüllte alle Träume, die unwahrscheinlichsten Situationen konnten als bewegtes, mit Klang versehenes Ereignis über die Leinwand flimmern. Aber alles, was wir für Wirklichkeit halten, alles was uns aus sich heraus tief zu bewegen scheint, entspringt in Wirklichkeit einem Automaten, den man an- und abstellen kann, der störanfällig ist, dessen Filme reißen können, der immer und immer wieder sein Kunststück zu wiederholen vermag, wenn wir ihn entsprechend in gang setzen. Wenn wir im Kino sitzen, in einem dunklen Raum vor der erleuchteten Leinwand ist dieses Prinzip des Automaten verschleiert. Es ist uns nicht bewußt, wenn nicht gerade der Film selbst es thematisiert, was zunehmend der Fall ist. Die Leinwand als große vertikale Tafel, als ein inszeniertes Gemeinschaftserlebnis, fordert die Aufmerksamkeit ausschließlich. Es ist eine Form der kollektiven Huldigung, die sich mit der Erfindung des Fernsehens, der Videotechnik und des Personalcomputers in den individuellen Bereich zurückzieht. Der Fernsehapparat im Wohnzimmer ist ein Automat unter anderen Automaten. Er vermittelt automatisch Informationen. Man stellt ihn an und ab. In diesem Automaten sind unendlich viele Bilder abruf- und mit Hilfe eines Videorecorders auch speicherbar.

 

Obwohl es eine unglaubliche Erfindung ist, vermögen wir nicht mehr darüber zu staunen. Das Kino zieht den Betrachter in seinen Bann, das Fernsehen schon nicht mehr in dieser Weise und nun scheint das Internet eine neue telematische Kultur hervorzubringen. Bewegte, sprechende, geräuschvolle Bilder stehen jedem von uns zu Tausenden vierundzwanzig Stunden ins Haus. Nur noch nebenbei. Selten gelingt ein konzentriertes Sehen und Hören. Die Sensationen erscheinen bereits als zu schwach, wir surfen durch die Kanäle, in der Hoffnung, daß uns etwas fesseln möge. Wir verlieren schnell die Geduld, denn wir wissen, daß fünfhundert Fernsehstationen weltweit gleichzeitig anderes bereit halten. Wir müssen nicht mehr einer Handlung folgen, es fällt leicht, ein langweiliges Gespräch auszulöschen. Das Fernsehen, das sich ausschließlich an den Seh- und Hörsinn wendet, stört absurderweise in uns den traditionellen Gebrauch dieser beiden Sinne. Es koppelt hören und sehen mit Schnelligkeit, mit der Fähigkeit zu überhören und zu übersehen. Es klammert sich an Affekte und ersetzt Natur durch Information. Trotz seines unendlichen Bild- und Informationsreservoirs ist es ein armes Medium, ein sich ausschließlich an der Oberfläche aufhaltendes Gebilde. Im Fernsehen erscheinen bestimmte Figuren, Moderatoren, Nachrichtensprecher u. dgl. durch ihre regelmäßige und oftmals langjährige Anwesenheit als vertraut, man scheint sie zu kennen. In Wirklichkeit wissen wir nichts über sie. Sie sind selbst zu Automaten geworden im Dienste eines Automaten. Man nennt dies Professionalität. Die Erfindung einer tragbaren Videokamera, die heute zum normalen Handwerkszeug fast einer jeden Familie gehört, ermöglichte es, wie zuvor der tragbare Photoapparat, filmische Archive von Amateuren anzulegen, die in bewegten, vertonten Bildern, wichtige Ereignisse der Familiengeschichte festhalten. Diese Allgegenwärtigkeit des elektronischen Bildes läßt daran Zweifeln, ob dieses Bildmedium tauglich ist, ähnliche Tiefen zu erreichen, wie sie die eingangs erwähnten Künstler in ihren primitiven bewegungslosen Bildern zweifellos erlangt haben. Künstler wie Bruce Nauman, Bill Viola oder Gary Hill haben diesen Zweifel überzeugend zerstreut. Schließlich hat jede Erfindung, die Bilder zu erzeugen vermag, Eingang in die Kunst gefunden. Immer hängt es davon ab, was der Betrachter dem Bild hinzustellen vermag. Auch wenn die künstlerische Konzeption überzeugend ist, ereignet sich nichts, wenn der Betrachter leer hinzutritt. In den sechziger Jahren hat ein junger Filmemacher, nicht ohne Kenntnis der Warhol-Filme, ein Experiment veranstaltet. Er hat Freunde und Bekannte eingeladen, zu einer bestimmten Zeit in seiner Wohnung zu erscheinen. Was sie erwartete, war eine laufende Kamera. Es gab keine Anweisungen, außer davor Platz zu nehmen und sich in welcher Weise auch immer, gegenüber dem Apparat zu verhalten. Das Bewußtsein, daß ein bestimmter Zeitraum der eigenen Existenz - der Aufenthalt in diesem Raum vor der Kamera - dokumentiert wird und möglicherweise späterhin als Dokument der Originalität oder des Versagens gewertet werden kann, bestimmte die Handlung. Das Sich-Bewußt-werden, in einen privaten Raum mit all seiner Unverbindlichkeit einzutreten und mit …ffentlichkeit konfrontiert zu werden, kam einem Schock gleich. Was schockierte, war der Verrat an der Erwartung, die sich bereits in der Vertrautheit eingerichtet hatte. In unserer Kultur ist die Kamera ein signifikanter Gegenstand, der sofort unser Verhalten ändert. Der auf uns gerichtete Apparat bedeutet nichts als ein mechanischer Automat, der gleichförmig einen Film oder ein Band durchzieht. Wir kennen die Aufnahmen von Ethnologen, welche die Unbefangenheit von Völkern zeigen, die Kamera und deren Bedeutung nicht kennen. In einer westlichen Großstadt jemanden vor eine Kamera zu bitten, bedeutet vor allem mit Verstellung rechnen zu müssen. Ihn zwar zu bitten, ihn aber, ähnlich wie in dem oben beschriebenen Experiment, mit sich allein zu lassen, ihm keine sprachlichen und zeitlichen Vorgaben zu geben, erhöht die Chance, das er etwas von seiner natürlichen Wesenheit preisgibt und nicht dem Klischee und der reinen Attitüde verfällt. Was bleibt ist ein Fragment, eine fragmentierte Persönlichkeit, die in die Rolle des Automaten zurückfallen muß, weil sie für einen Automaten agiert. Die Komplexität ihres Daseins verwirklicht sich nur in ihrer physischen Existenz und bleibt als erlebtes Geheimnis der Selbstreflexion überlassen. Das filmische Fragment, die kurzeitige sprachliche Darstellung der eigenen Befindlichkeit, die nonverbale Sprache der Gesten, etc. werden durch den Betrachter, den Zuhörer, durch den Filter seines, dem Automaten hinzu gestellten lebendigen Ich, zu einer komplexen Ganzheit, in die sich das Fragment auf diese oder jene Weise einnistet. Die Personen sind geprägt durch eine unendliche Kette von Bedingungen, eine davon, die sich wiederum vielfältig aufspaltet ist die Sozialisation in einer Großstadt. Wenn diese Stadt von besonderen Energien durchzogen ist, wie etwa New York, werden sich diese Energiefelder in den Individuen ablagern wie Sedimente im Gestein. Die Schluchten von Manhattan sind wie Wandelgänge, die die durchschreitenden Personen aufladen, ihren aufrechten Gang bestärken. In anderen Stadtteilen, die dem Verfall anheim gegeben sind, herrscht eine andere Art von Energie, oftmals wechseln diese Felder bereits an einer wichtigen Straße, die sich wie eine imaginäre Grenzlinie hindurch zieht. Ein unendliches Stimmengewirr liegt über allem und hinter jeder Stimme verbirgt sich ein Schicksal. Die Rechnung ist einfach, wenn ich so viel als möglich dieser Stimmen aufnehme, habe ich möglicherweise am Ende etwas von diesem Energiefeld in eine Batterie, in einen Speicher transformiert, etwas, was über die bloße Information hinausgeht, was sich zusammenschließt zu einem letztlich nicht mehr verbalisierbaren Rest. Diese Essenz hebt das Werk über den Automaten hinaus. Das vor der Kamera Gesagte spielt vielleicht sogar nicht die ausschlaggebende Rolle, sondern die Kraft des Nachbildes, das eine jede Person bei dem Betrachter hinterläßt. Dieses gleichsam ausdestillierte Geheimnis der Existenz hebt das sprechende, bewegte Bild über seine Gefangenschaft im Automaten hinaus. Es begründet seine immaterielle, geistige Existenz jenseits der Maschinenwelt.

 

Eugen Blume